„Es ist erstaunlich, wie einen ein einzelner Moment im Leben völlig aus sich selbst herausreißen kann“, stellt die Talk-Show-Hosterin Vivienne Vyle
in der Serie The life and times of Vivienne Vyle
fest, als sie von ihrer Managerin erfährt, dass ihr nächster Talkshow-Gast eine Heroinabhängige sein wird, die von ihrem ebenfalls heroinabhängigen Freund geschlagen wird. In dem Moment versteht Vivienne Vyle, dass es noch andere Leute gibt außer ihr selbst, die bedeutend größere Probleme haben als sie. Diese Erkenntnis durchdringt sie für einen Augenblick und ermöglicht ihr Gedanken, die sich nicht um sie selbst drehen. Vivienne Vyle vergisst für einen Augenblick, dass ihr Mann sie unglaublich nervt, dass er hoffentlich den Klemptner angerufen hat und dass er gefälligst abends eine angemessene Entschuldigung präsentieren sollte, nachdem er ihr am Vormittag im Streit um den Anruf beim Klemptner nicht oft genug Recht gegeben hatte und richtet ihren Blick nach außen.
Angenehme und unangenehme Erkenntnisse
Ein Moment im Leben, der einen völlig aus einen selbst herausreißt und einem im wahrsten Sinne die Augen öffnet, nennt man Erkenntnis. Der eigene Horizont erweitert sich und man ist plötzlich in der Lage, mehr zu sehen als sich selbst. Mehr zu sehen, als das, was sich direkt vor der Nasenspitze abspielt.
Erkenntnisse sind nicht immer angenehm. Es gibt Erkenntnisse, die wenig Spaß machen. Ich hatte beispielsweise die Erkenntnis, dass sich die Welt nicht um mich dreht. Dass ich nicht der Mittelpunkt dieser Erde bin, die nicht der Mittelpunkt unseres Sonnensystems ist, das nicht der Mittelpunkt unserer Galaxie ist, die nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Ich kann verstehen, dass man Galileo hinrichten wollte für die beleidigende Behauptung, die Sonne würde sich nicht um die Erde drehen. Es tut weh zu erkennen, wie wenig Bedeutung wir doch eigentlich in diesem Universum haben.
Erkenntnisse können auch angenehm sein. Beispielsweise die Erkenntnis, dass man nicht so kompliziert ist, wie man hin und wieder annimmt. Dass zu jedem menschlichen Problem schon eine Lösung gefunden wurde. Dass wir die Lösung unserer Probleme in Büchern nachschlagen können.
Du fühlst dich müde? Lies ein Buch über gesunde Ernährung oder Stress im Alltag. Du bist unglücklich verliebt? Mach einen Yoga-Kurs und finde dein inneres Gleichgewicht. Du hast nicht genügend Geld? Verreise medial vor dem Fernseher, im Internet oder in der fashionable virtual reality.
Erkenntnisvermeidung
Erkenntnisse können uns weiterbringen, sobald wir sie zulassen. Man muss auch nicht besonders klug sein, um eine Erkenntnis zu gewinnen. Erkenntnisse kommen oft, wenn man weniger nachdenkt und seltener, wenn man zu viel nachdenkt.
Aber warum haben wir selten Erkenntnisse und beschäftigen uns überwiegend mit den Lügen, die wir uns erzählen, um nicht ins Fitnessstudio gehen zu müssen, um nicht nett zu anderen sein zu müssen und um nicht über vergangene Fehler nachdenken zu müssen? Die Antwort ist simpel:
Weil wir Erkenntnisse eben nicht zulassen.
Bodyguard Verdrängung
Unser Bodyguard Verdrängung kümmert sich darum, dass wir uns weiter einreden können, was wir uns einreden wollen, um nicht der harten Realität ins Auge sehen zu müssen. Unser Bodyguard Verdrängung schützt uns vor Erkenntnissen, die wir bräuchten, um uns zu verbessern. Warum rauchen noch viele, obwohl sie doch bei jedem Zug die Bilder von verteerten Organen und abgetrennten Gliedmaßen vor Augen haben müssten? Verdrängung! Warum bereitet sich ein Student (oder eine Studentin, wenn die Frauen auch in diesem Beispiel genannt werden wollen) nicht auf die Prüfung vor, obwohl er/sie noch lebhaft die Panikattacke vor Augen hat, die er/sie aufgrund mangelnder Vorbereitung bei der letzten Prüfung hatte? Verdrängung! Warum wundert sich eine geschlagene Frau, warum sie immer wieder an dieselbe Art Männer gerät, obwohl sie Parallelen zu den Vorgängern erkennen müsste? Verdrängung!
Das hinterlistige an Verdrängung ist, dass wir sie nicht bewusst anknipsen, sondern diese automatisiert unsere Gedanken aufräumt. Automatisiert und unsichtbar. Das Wort Verdrängung
impliziert zwar, dass es sich dabei um einen aktiven Prozess handelt, in dem der Mensch bewusst und angestrengt etwas wegdrängt. Aber so läuft das nicht ab. Man vergisst etwas, ohne festzustellen, dass es etwas gab, das man vergessen hat und warum man es vergessen hat. Dass und warum man schlichtweg nicht mehr daran denkt.
Verdrängung überlistet selbst den intelligentesten Menschen.
Philosophie – Liebe zur Weisheit
An dieser Stelle kann uns die Philosophie weiterhelfen. Philosophische Fragen zu stellen ermöglicht es uns, über die Barrieren hinaus zu blicken, die wir uns selbst aufgebaut haben. Wir können uns aus uns selbst und unseren Verdrängungsmechanismen herauslösen und uns selbst und unsere Umgebung neu definieren. Wir können die Perspektive eines weisen Philosophen oder eines expressionistischen Künstlers annehmen, ausprobieren und aus dieser Perspektive unsere kleinlichen Fragen und Probleme betrachten. Und schon braucht es keine Verdrängung mehr, um unsere Stressoren zu verstecken. Wir können sie unaufgeregt betrachten und in ein logischeres Gefüge einordnen, als es uns jemals möglich war.