María de Buenos Aires


oder: Von der Wiedergeburt des Tangos

Kein Tanz ist so leidenschaftlich wie der Tango. Keine Leidenschaft ist charakter­stärker als die, die mit dem Tango durchlebt wird. Eine Leidenschaft, die nicht nur von einer Sehnsucht nach Liebe geschürt wird, sondern auch von der Sehnsucht nach prickelnder Gegensätzlichkeit, wilder Auseinandersetzung und inniger Versöhnung. Wer Tango tanzt flirtet, liebt, hadert, streitet – im Rhythmus mit sich selbst und mit anderen.

Revolution des Tangos und der Oper

Genau das Richtige, um damit die verstaubte Opernwelt aufzumischen, dachte sich wohl Astor Pia­zzolla, der als Revolutionär des Tangos schon Tangokenner und -liebhaber verägert hatte. Wenig beeindruckt von südamerikanischen Kritikern, die ihm gerne die Verstümmelung traditioneller Musik vorwerfen, schuf Piazzolla mit seiner Tango Operita Maria de Buenos Aires ein Einzelstück in der klassischen Musik, das es so wohl noch nicht gab und nicht mehr geben wird.

Erotisch-melancholische Leidenschaft

Maria de Buenos Aires von Astor Piazzolla mutet weniger wie eine Oper an, sondern eher wie ein mo­dernes, von Tango-Rhythmen begleitetes Theater. Bühnenbild und Kostüme sind schlicht gewählt, die Vergegenwärtigung der Geschichte obliegt den Musikern und Schauspielern. Zum Leben erweckt durch ein ungewöhnliches Instrumentarium, in dem die E-Gitarre, Percussion und das Bandoneon eine tragende Rolle spielen, wird der Tango zum Atem der Hauptfiguren, die die Leidenskomponente dieses Tanzes in melancholisch-erotischer Leidenschaft durchleben.

Wiederauferstehung einer Hure

Die Handlung ist derart symbolgeladen, dass man das gesamte Stück als Allegorie deuten kann. Der Tango wird in diesem Stück sowohl im übertragenen Sinne als auch dem Wortsinne nach wiedergeboren. Er erlebt eine Wiederauferstehung mit der spanischen Straßenhure Maria, deren Schatten nach ihrem Tod von einem Geisterbeschwörer herbeigerufen wird und gezwungen ist, sich ihr Leben wieder ins Gedächtnis zu rufen. 

„Sie kam aus der wuchernden Vorstadt und fand voller Hoffnung eine Grenze
und den Weg hinaus.
Glockenschläge, drei Sterne, Augenringe, ein beschatteter Balkon, Torjubel, ein Marktplatz.
Die Sonne geht langsam auf, eine Messe am Morgen, die Nachbarn und die Tauben,
ein paar Jungs, die den Mädchen nachsehen und ein Bahnhof.
Ein anderer Raum, eine andere Zeit, ein anderer Zug. Die Erwartung. 
Eine Andacht, eine Hure, ein Laden.“

Die Stimme Marias erhebt sich zur Melodie des Tangos, der einzigen Sprache, die sie kennt.

“María tango, María del arrabal, María noche, María pasión fatal”. 

Von Dingen trunkene Marionetten

Marias Schatten ist dazu verdammt, orientierungslos umherzuwandeln, ohne zu wissen, wessen Schatten er einmal war. Psychoanalytikern, die den Schatten behandeln wollen, lauschen verständnislos seinen Erklärungen: 

Aus dem endlosen Grau des Vorgestern erinnere ich mich nicht an mehr als an jenes grausames Mysterium, das zu mir schrie: Komm ans Licht! - und als ich ins Leben trat, lachte es ... und endlich, als es mich so sah, so endgültig und so Ich, schrie es, sich selbst beißend, fürchterlich: Stirb...!

Schließlich schickt der Geist, der Maria herbeigerufen hatte, „die drei von Dingen
trunkenen Marionetten“ zu Marias Schatten. Sie stopfen dem Schatten Veilchen in den Mund und
Kräuter in die Taschen seines Kleides. Am nächsten Sonntag gebiert der Schatten Marias in dem Gerüst eines der umstehenden Hochhäuser stehend ein weibliches Baby und verschwindet daraufhin in der Ferne. Das Baby wird von den Umherstehenden aufgefunden, während die Stimme des Schattens zu hören ist, der aus der Ferne ein Weihnachtslied singt. 


Christliche Symbolik

Eine makabere, südamerikanische Weihnachtsszenerie. Die Frage, ob Maria nun wiedergeboren wurde oder das Kind ein Jesus-gleicher Erlöser sein wird, bleibt offen. Anspielungen, dass Maria selbst in 7 Tagen erwachsen wurde unterstreichen, dass Astor Piazzolla sich bewusst christlicher Symbolik bediente. Die Oper schließt mit dem Gesang betrunkener Engel: 

„Maria unser von Buenos Aires ... vergessen bist du unter allen Frauen.“

Tango, Leid und Leidenschaft zugleich, der Lebensatem einer heißblütigen Frau, die dem Zeitgeist und sich selbst zum Opfer fiel und letztendlich vergessen wurde. Nachdem sie sich zu Lebzeiten aller Sünden schuldig gemacht hatte, die einer Frau vorgeworfen werden können, erfolgt ihre Wiederauferstehung durch die Geburt ihrer selbst. Der Tango mutet weiblich an und feiert sein Comeback mit Stärke und Mut, heißblütiger, leidenschaftlicher und fruchtbarer denn je. 

Triste Maria de Buenos Aires, niemals sollst du vergessen werden!

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